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Leseprobe aus "Das Vermächtnis der Seelenhändler"

 Auszug aus dem Prolog 

 

Einst traten die Söhne Borrs an einen weißen Meeresstrand. Da Asgard kein eigenes Meer besaß, pflegten alle drei Spaziergänge an den Stränden und Küsten Midgards zu unternehmen, sooft es ihnen möglich war. Sie liebten die einzigartige Atmosphäre und die salzig schmeckende Luft. Stets war das Land leer, wenn sie es besuchten. Da es ihnen verschwendet erschien, nahmen sie sich zwei Baumstämme, die das Meer angespült hatte. Aus diesen beschlossen sie Wesen zu erschaffen, die Midgard bevölkern sollten.

Der erste Sohn schenkte ihnen die Seele und das Leben, der mittlere Sohn die Gabe des Verstehens und die Beweglichkeit. Der jüngste Sohn meinte, sie müssten die Wesen nach ihrem eigenen Vorbild erschaffen und verlieh ihnen die Gestalt der Asen. Zudem die Fähigkeit zu sehen, zu hören und zu sprechen. Doch die besonderen Gaben der Asen, sich die Mächte der Natur zu eigen zu machen und die überaus lang andauernden Leben, verwehrten sie ihnen.

So standen den dreien ein Mann und eine Frau gegenüber. Diesen erbauten sie eine Stadt, sodass sie als die ersten Menschen die Welt Midgard bevölkern sollten.

Nachdem die drei Brüder ihr Werk vollbracht hatten, überquerten sie die Himmelsbrücke nach Asgard und waren mit sich und ihrer Tat außerordentlich zufrieden, was mit allem Prunk und Protz gefeiert werden musste.

 

Mit einem lauten Krachen und Splittern zerschellte der fein bemalte Krug auf dem Marmorboden. Der Krach ging in dem allgemeinen Tumult völlig unter. Einer Fontäne gleich spritzte das Bier über die Bänke und benässte Kleider und Schuhe der ausgelassenen und bereits stark angetrunkenen feiernden Gesellschaft. Niemanden störte es. Niemand nahm es auch nur wahr. So hörte keiner der Anwesenden die charakteristischen Schritte der hohen dünnen Absätze. In einem schnellen und unruhig trommelnden Rhythmus näherten sie sich und verhießen nichts Gutes. Erst, als der Klang der Schritte erstarb, wurde das Lachen leiser. Ein unerklärbarer Schauder hatte den Saal ergriffen. Wie Frost legte er sich auf die erhitzten Gemüter. Hastig rappelten sich einige der feiernden Damen auf, griffen nach ihren losen Kleidern und bedeckten ihre halbnackten Körper damit. Wer in der Nähe des Eingangs saß oder lag, schaute etwas verschämt zu Boden. Niemand wagte es, die Gestalt direkt anzusehen, die hoch aufgerichtet an der Tür verharrte.

Hel wusste, dass ihr Anblick furchteinflößend war. Es war nicht ihre große stattliche Erscheinung. Es war auch nicht die Hälfte ihrer Gestalt, die in atemberaubender Schönheit erstrahlte, dass sie damit sogar die Anmut der Asinnen erblassen ließ. Es lag an ihrer zweiten Körperhälfte. Diese war nahezu schwarz. Krankheit und Fäulnis hatten ihre tote Körperhälfte zerfressen und zersetzt. Die Muskulatur funktionierte durch den Zauber, der sie als Ganzes am Leben hielt. Doch das Fleisch hing verfault an den Knochen. Sie wirkte so abgrundtief abstoßend, wie sie andererseits unbeschreiblich schön erstrahlte.

Das Lachen und Feiern in der vorderen Saalhälfte war vollständig zum Erliegen gekommen, nachdem die Totengöttin eingetreten war. Doch im hinteren Teil hatte niemand von ihrem Erscheinen Notiz genommen.

Im Rhythmus eines aufgeregten Herzschlags hämmerten Hels Schritte durch die zurückweichende Menge. Der Ärger, der sie hergetrieben hatte, wuchs zu einer Wut. Man ignorierte sie. Und das war etwas, was sie auf den Tod nicht ausstehen konnte.

Rücksichtslos stolzierte sie über die Betrunkenen hinweg und steuerte auf zwei Männer zu. Diese zwei feierten am lautesten und beglückten ihr Publikum mit schiefen Gesangseinlagen. Einige Gäste wichen vor ihr zurück, sofern sie dazu noch in der Lage waren. Andere blieben halb bewusstlos am Boden liegen und starrten sie mit glasigen Augen an. Doch die beiden Männer, denen ihr Besuch galt, ignorierten sie weiter.

„Vili und Vé!“, rief Hel die beiden an, als sie direkt vor ihnen haltmachte. Ihre Stimme schwoll zu einer ungewöhnlich starken Laustärke an. Das Echo ihrer Worte hallte bedrohlich von den Wänden wider.

Augenblicklich kehrte Stille ein. Es dauerte einige Sekunden, bis die verblüfften Männer sich gefangen hatten. Dann lächelten sie freundlich, als bemerkten sie Hels brodelnde Wut nicht. Dabei war diese ihr so deutlich anzusehen, als trüge sie dieselbe auf einem Tablett vor sich her.

„Hel“, schallte ihr ein Lallen entgegen, „feiere gern mit uns!“

„Was gibt es denn heute wieder zu feiern, Vili?“, fragte Hel bittersüß und ballte die tote Hand zur Faust. Ein dunkler Nebel umfing das Handgelenk.

„Wir feiern – wir feiern“, stammelte der Angesprochene langsam und ließ nachdenklich seine Blicke schweifen.

Dann erhellte sich sein Gesicht.

„Wir feiern einfach, weil wir feiern“, purzelten die Worte dann stolz aus seinem Mund.

Dabei schwenkte er den zur Hälfte gefüllten Krug Bier so kräftig umher, dass ein großer Teil davon auf seinem ohnehin schon völlig fleckigen Hemd landete.

„Ja, ihr feiert!“, zischte Hel angewidert.

Mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung ließ sie den dunklen Nebel Dunstpfeile ausspucken, die den Männern Krüge und Hammelkeulen aus den Händen schossen. Zwei Schlingen folgten aus dem Handgelenk, umfingen die Nacken der beiden und rissen sie mit einem unsanften Ruck zu Boden.

„Ihr feiert!“, donnerte Hel wütend, „ist euch je in den Sinn gekommen, euch einmal um den Irrsinn zu kümmern, den ihr in die Welt gesetzt habt? Nein – die Herren feiern!“

Die Brüder sahen sich verwirrt um und blieben etwas hilflos am Boden liegen, während Hel weiter vor ihnen tobte.

„Ihr drei dummen Asen wolltet einmal Gott spielen“, spie sie ihnen die Worte entgegen, „Menschen wolltet ihr erschaffen, ein Land besiedeln, Völker hervorbringen. Habt ihr euch einmal angesehen, was ihr wirklich fabriziert habt? Habt ihr euch auch nur einmal damit beschäftigt, was eure Menschen in Midgard tun, seit ihr sie in fünf Minuten zusammengebastelt habt? Ihr habt es damals tatsächlich geschafft einzusehen, dass das Leben ohne Tod nicht existieren kann und gabt mir die Seelen der Gestorbenen in Obhut, um über sie zu wachen. Doch was mit den Lebenden geschah, das kümmerte euch nicht!“

Vergeblich versuchten die beiden betrunkenen Männer ihren Ausführungen zu folgen.

„Aber, Hel“, versuchte Vili zu beschwichtigen, „wo ist das Problem? Sie leben – sie sterben …“

„Sie leben und sterben! Ist das alles, was ihr fertiggebracht habt? Wo sind die Götter, zu denen sie rufen? Wer sorgt für Gerechtigkeit unter ihnen? Wer verhindert Gewalt an Schutzlosen?“ Die Blitze, die Hels Augen auf die beiden schossen, waren beinahe greifbar.

„Haben sie nicht – ich meine, natürlich, Hel! Sie haben Anführer und sie haben doch Waffen!“ Vilis Erleichterung war so überdeutlich, dass Hel wutentbrannt an ihren Schlingen riss. Hart schlug sein Kopf auf dem Boden auf.

„Richtig, ihr Helden. Sie haben natürlich Waffen. Und sie richten sie erfolgreich gegen alles, was schwächer ist als sie selbst. Sie quälen und töten Wehrlose. Sie beginnen, Midgard selbst zu zerstören. Es darf nicht wahr sein, dass sämtliche Jahrhunderte an euch vorbeigezogen sind und ihr nicht einmal hingesehen habt!“

„Vielleicht solltest du das mit dem Allvater besprechen, wir sind doch nur seine Brüder“, versuchte nun der Jüngste, Vé, ebenfalls vergeblich ihren Zorn zu besänftigen.

„Euer Bruder hat euch diese Aufgabe übertragen. Aber jetzt habe ich lange genug auf euren Allvater eingeredet. Ich habe lange genug zugesehen, was in Midgard geschieht. Und da sich nichts verändert hat, werde ich mich selbst um die Gerechtigkeit kümmern, die ihr den Menschen versagt.“

Der dunkle Nebel in ihrer Hand breitete sich aus. Einige der Gäste begannen zu schreien, andere zu flüchten. Doch sich Hel entgegenzustellen, wagte niemand.

Durch die Macht der Seelen, die nach dem Tod der Menschen in ihr Reich kamen, hatte sie eine Stärke erlangt, die mit der Macht der Asen ebenbürtig war und niemand wusste, ob sie diese nicht sogar noch zu übersteigen vermochte.

„Ihr seid nicht in der Lage, den Menschen Gerechtigkeit im Leben zu geben. Also werde ich dafür sorgen, dass ihr es nach ihrem Tod tun werdet.“

Den Allvater, ihr an Macht und Stärke überlegen, konnte sie kaum für ihre Zwecke nutzen. Vili, der mittlere Bruder, war nicht geeignet für ihre Art der Gerechtigkeit. Und so suchten sich die unheilvollen Nebenschwaden Vé, den Jüngsten der drei, in seinen Eigenschaften gut und freundlich. Ein beliebter Ase und ein unbeschriebenes Blatt in seinen Taten. Er war derjenige gewesen, der die Menschen in guter Absicht mit den Eigenschaften der Asen ausgestattet hatte. Nun sollte er in guter Absicht Gerechtigkeit walten lassen, für die alle drei vergessen hatten, zu sorgen.

Vés Augen wurden dunkel, als der dichte Nebel ihn einhüllte. Zu erschrocken, plötzlich zum Ziel geworden zu sein, und zu benebelt vom Alkohol, wehrte er sich nicht.

Dann folgte unsagbarer Schmerz. Ein Stechen im ganzen Körper, ein Zerren, als reiße jemand seine Gliedmaßen auseinander. Er meinte zu schreien, doch er war so betäubt vom Schmerz, dass er nicht wusste, ob er tatsächlich schrie oder sich das nur in seinem Kopf abspielte.

Messer schabten seine Haut vom Fleisch, die Organe wuchsen explosionsartig. Heiße Säure stieg in seinem Hals auf und ließ ihn würgen. Jemand jagte ein glühendes Eisen in seine Zunge. Knochen wuchsen aus seinem Rücken und zerfetzten Fleisch und Muskeln. Sein Kreischen verwandelte sich in heiseres Fauchen und schließlich in ein grollendes Brüllen. Das Brennen in seinem Hals stieg hinauf und er musste sich übergeben. Was er ausspie, war ein gewaltiger Feuerstrahl.

Die Hallen Gladsheims erzitterten. Die Leute schrien und flüchteten, um ihre nackte Haut zu retten. Rückwärts kroch Vili auf allen Vieren davon. Die Augen waren schreckensgeweitet auf seinen kleinen Bruder gerichtet, der sich plötzlich als gigantischer schwarzer Drache vor ihm erhob, geschüttelt von den brutalen Schmerzen seiner Verwandlung.

Der Allvater und Soldaten erschienen nur Augenblicke später in der Tür.

„Hel, was hast du getan?“, rief er sie an.

Sie blickte nur hochmütig zurück.

„Das, was du längst hättest tun sollen. Nidhögg wird sein Name sein. Bei mir wird er lernen, Gerechtigkeit zu üben an denen, die es am meisten verdient haben.“

Die Schlinge, die zuvor Vés Hals umschlossen hatte, hing nun als Leine um den Schlund des schuppigen Drachens. In seiner Angst und Verzweiflung schlug er mit Schwanz und Schwingen um sich und zerstörte alles, was in seine Klauen geriet. Die Hallen bebten.

„Hel, ich habe das nicht gestattet! Er ist derjenige, den die wenigste Schuld an unseren Fehlern trifft!“

Doch die Äußerung des Allvaters bewirkte nur ein erneutes spöttisches Lächeln auf dem zweiseitigen Gesicht der Totengöttin. Brocken von zerstörten Säulen flogen an ihr vorbei. Steine und zerbrochene Kunstwerke regneten von der Decke.

„Das mag sein“, erwiderte sie kalt, „sowie die wenigste Schuld an allem die Schwachen unter den Menschen trifft, die ihr nicht zu schützen vermochtet. So wird nun auch der Schwächste von euch den vermeintlich starken Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen.“

 

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